Dramen, Tragödien, Tragik, Tragikomödien: 20 Geschichten über verblühte Liebe

Der Laatzener Jurist und Autor Fritz Willig schreibt 1976 sein erstes Buch: „Miteinander - Auseinander". Wahre Geschichten über gescheiterte Ehen.

Etwa jede vierte Ehe in der Bundesrepublik scheitert. Hinter dieser nüchternen Zahl, auch Scheidungsquote genannt, verbergen sich Dramen, Tragödien, Tragik, Tragikomödien. Die Liebe, auch die verblühte, ist ein einfallsreicher Regisseur auf der menschlichen Bühne. Ein Anwalt hat in dem im Jahr 1976 veröffentlichten Buch von Fritz Willig „Miteinander – Auseinander“ 20 authentische Schadensfälle kompetent, unterhaltsam, kurzweilig und launig beschrieben, die beispielhaft sind für das Thema Scheidung. Der LeineBlitz wird diese 20 Schadensfälle in einer Serie jeden zweiten Sonntag veröffentlichen. Fritz Willig, 1941 geboren und in Laatzen aufgewachsen, hat sich als Rechtsanwalt in aufsehenerregenden Wirtschafts- sowie Mordprozessen einen guten Namen über die Stadtgrenzen hinaus erworben. Überdies wurden bisher 13 Bücher von ihm veröffentlicht. Auftakt ist heute „Der Oberstudienrat“.

Eine deutsche Justiz muss sich permanent mit Ohrfeigen befassen, mit tatsächlichen und noch mehr mit erfundenen Ohrfeigen, die der gewalttätige Ehemann seiner wehrlosen Gattin verabreicht hat beziehungsweise haben soll. Ohrfeigen geistern durch ein Meer von Scheidungsakten. Ein Paar, das eine rasche Scheidung anstrebt, den berühmten Drei-Minuten-Termin, muss sich darauf einigen, dass er sie geschlagen hat. Jedes deutsche Scheidungsgericht greift spontan Paragraph 43 des Ehegesetzes. Der Fall war absurd und für mich insofern eine Premiere, als ich zum ersten Mal in meiner Praxis die Frau eines Oberstudienrats für Griechisch und Latein als Mandantin hatte. Eine sanfte Brünette, 38 Jahre alt, schweigsam, musisch, eine Rilke-Natur. Aber diese Dame, eine füllige Frau mit verhaltenem Sexappeal, wusste genau, was sie wollte. Sie wollte schuldlos geschieden werden – obwohl ihr Mann sie mit einem Schauspieler nackt auf der Couch ertappt hatte.

Als Rechtsanwalt hat man von Berufs wegen mancherlei Einblicke in die weibliche Psyche. Nach zwei Jahren Praxis weiß man spätestens, dass die sanften, introvertierten, ganz freundlichen Wesen Stahl sind, wenn sie Stahl sein wollen. Mit fast allen Männern kann man sich arrangieren, Praktiken empfehlen, Vergleichsmöglichkeiten vorschlagen. Bei Frauen fällt das schon schwerer, und beim Typ der sanften Frau, die scheidungsentschlossen beim Anwalt erscheint, ist jeder Versuch, den Fall aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, etwa auch aus der des Ehemannes, zum Scheitern verurteilt. Sie kommt mit dem Degen in der Hand. Der Anwalt will sie nur als Sekundanten. „Erzählen Sie“, sagte ich zu der Studienratsgöttin, deren lindgrüner Hosenanzug mich an Diana erinnerte. Ein Wild sollte heute zur Strecke gebracht werden. Ihre Geschichte war ebenso so phantastisch wie amüsant, und man spürte, dass hier eine ehemalige Studentin der Philosophie (im vierten Semester hatte sie geheiratet) die Story formulierte. Seit 16 Jahren verheiratet, ein Kind (15-jähriger Sohn Gymnasium) – gutbürgerliches Milieu. Aber keine Glut mehr unter der Achsel, eine tote Ehe. Liebe ist in Gleichgültigkeit umgeschlagen. Sympathien in Abneigung, in der Hass mitschwelt. „Mein Mann ist ein Spießbürger“, sagte die sanfte Brünette (während sie sich die fünfte Zigarette an der vierten anzündet). „Ein Ehrenmann, zweifellos, mit einem guten Ruf in Fachkreisen. Aber er ist kein Mann für mich. Seit zehn Jahren weiß ich das schon.“

Beherrscht spricht die noch fast jugendliche Frau, aber in ihren grauen Augen steht Sturm. Eine routinemäßige Zwischenfrage nach dem sexuellen Zusammenleben legt das Manko dieser Ehe bloß. „Wir schlafen schon lange nicht mehr miteinander“, sagt sie. Es ist eine Antwort im sachlichen Tonfall. Aber es ist ein Schrei. Das Psychogramm dieser Ehe, die längst keine mehr ist, birgt Alltägliches. Der Mann, 47 Jahre alt, ein alternder Mann, hat sich aus dem Ehebett in die platonischen Reiche Homers und Ciceros geflüchtet. Zurückgeblieben ist eine unbefriedigte Frau, eine Frau voller Lebenshunger. An der Seite dieses gewiss ehrbaren Humanisten welkt sie dahin. Jetzt will sie die Scheidung, nein, sie will mehr: Sie will ausbrechen aus der muffigen Welt der Konvention. Sie will leben, aber auf solider Versorgungsbasis. Man kann keine Ehefrau, die als Hausfrau auf eine eigene berufliche Existenz verzichtet hat, ankreiden, wenn sie bei allen Scheidungsmanövern über das Finanzielle die angemessene Partizipation in der beruflichen Karriere des Mannes im Auge behält.

Darum muss der Mann schuld sein, der Versorgung wegen – und so erzählt die Studienratsgattin eine Geschichte, deren märchenhafte Züge unverkennbar sind. Aber alle Geschichten aus dem so genannten vollen Menschenleben klingen nach Märchen. Man war bei einem befreundeten Schauspielerehepaar eingeladen, ging hin, demonstrierte heile Welt. Doch die Lunte brannte schon. Es handelte sich um eine jener typischen Anti-Ehe-Partys, die jedes Wochenende in unzähligen deutschen Heimen über die Bühne gehen, ohne dass die Partner die Brisanz dieser zweifelhaften Geselligkeit erkennen. Der Schauspieler (41 – ein gut verdienender, nicht umprominenter lokaler Star) lebte mit seiner durchaus extravaganten, 20-jährigen Gefährtin, ebenfalls in ständiger Fehde. Vier Menschen am Kamin – ein Bild bürgerlichen Friedens, aber die Explosivstoffe brennen. Die Schauspielergattin, ein gespielt lässiger Twen, gibt sich ihrem Mann gegenüber schnippisch. Der Oberstudienrat für Griechisch und Latein plaudert verbindlich, der Star renommiert, lässt ein mühsam aufpoliertes Feuerwerk (doch wer merkt das schon außer der eigenen Frau) sprühen. Und die Studienratsgattin bekommt rote Wangen, am Alkohol liegt es, doch auch am anderen Mann. Der Schauspieler, das ganze Gegenteil eines Spießbürgers scheinbar, ist das genaue Gegenteil ihres Mannes. Die Stunden verstreichen, die Atmosphäre lädt sich immer mehr auf. Der Oberstudienrat sieht, wie seine Frau kokettiert, sieht ihr Lächeln – dem anderen gegenüber. Dieses Lächeln hat einmal sein Herz erwärmt, doch sie schenkt ihm dieses Lächeln nicht mehr. Er weiß, dass sie ausbrechen will, er kennt auch den Grund, aber er ist ohnmächtig, ein alternder Mann, ein Mann, den die Schatten der Schwermut streifen.

Die Ohnmacht eines Mannes schlägt in Wut um. „Trink nicht so viel, du blöde Kuh, sonst gehe ich“, zischt der Oberstudienrat für Griechisch und Latein seiner Frau zu. „Dann geh doch“, erwidert sie kalt. Es ist eines jener blitzartigen, bösen ehelichen Duelle. Jeder Stich sitzt, man kennt die schwache Stelle des Partners, hat Training darin, treffsicher zu verletzen. Der Mann springt auf, verabschiedet sich flüchtig vom Gastgeber und geht. Verkrampftes Lachen, man trinkt weiter – bald nur noch zu zweit. Die Schauspielergattin, ein zynisches Geschöpf, hat unauffällig Party Party sein lassen.

Meine Mandantin zündet sich eine Zigarette an, ich schweige. Man muss als Anwalt einer Frau gegenüber schweigen können. Nichts provoziert mehr zum Reden, es ist ein Funke, der von explosives Gemisch fällt. „Sie mögen lachen“, sagte die Studienratsfrau. „Aber es passierte nichts, wir hatten einfach zu viel getrunken, nein, kein moralisches Verdienst, nur die Promille verhinderte ein Techtelmechtel.“ Sie formuliert in einem Anflug von Belustigung. Ein Hauch von Koketterie ist auch dabei. Eine Frau. Jedenfalls hat sie sich ausgezogen, auf die Wohnzimmercouch zum Schlafen gelegt. Da Gastgeber (sagt sie) war in ein anderes Zimmer gegangen, und irgendwann im Morgengrauen hätte sich dann folgende apokalyptische Szene abgespielt: Ihr Mann stand vor der Couch, auf der sie lag – und nackt neben ihr der Schauspieler. Später erfuhr sie, dass dem Oberstudienrat für Griechisch und Latein, einem redlichen Mann in der Tat, doch Gewissensbisse gekommen waren. Da seine Frau morgens gegen vier Uhr noch nicht zu Hause war, fuhr er besorgt zu der Wohnung des Schauspielers und klingelte mehrmals. Nach einiger Zeit öffnete die Dame des Hauses, die war im Morgenmantel, und führte den Studienrat ohne Kommentar (allerdings mit einem typischen Lächeln im Gesicht) zur Wohnzimmercouch. Ein teuflischer Coup. Marquis de Sade hätte seine Freude daran gehabt. Der Oberstudienrat sagte kein einziges Wort, er ohrfeigte seine Frau mehrmals, dann verließ er schweigend die Wohnung. Noch am gleichen Tag reichte er die Scheidung ein. Begründung: Untreue seiner Frau.

Das war die Geschichte, die mir die Mandantin erzählte. Eine Acht-Zigaretten-Story. Entscheidend sei, wandte ich ein, ob das Gericht ihr und dem Schauspieler abnehme, dass sich partout nichts zwischen ihnen abgespielt habe. „Partout nichts“, sagt die Frau. Ihre Augen waren grauer Stahl. Beim Scheidungstermin hatte der Schauspieler seinen großen Auftritt, aber den hatte ich einkalkuliert. Er habe als Gastgeber die unbedingte Pflicht gehabt, der stark vom Alkohol mitgenommenen Frau des Oberstudienrats eine Bleibe für die Nacht anzubieten. An ein erotisches Abenteuer habe er nicht gedacht. Die Frau sei wesensmäßig gar nicht sein Typ gewesen, außerdem sei er selbst nahezu volltrunken gewesen. Wie er von seinem Bett auf die Couch geraten sei, könne er beim besten Willen nicht sagen, vermutlich habe er im Laufe der Nacht mal nach seiner Frau sehen wollen und müsse dann in seinem Rausch den Rückweg verpasst haben. Das klinge alles ziemlich lächerlich, doch so und nicht anders sei dieser merkwürdige Abend verlaufen. Und er leistet darauf auch reinen Gewissens einen Eid.

Das Gericht schied die Ehe – wegen Alleinverschulden des Mannes. Die Ohrfeigen hatten wieder einmal den Sieg davongetragen. Seitdem zweifelt der Oberstudienrat für Griechisch und Latein vermutlich auf das heftigste an der irdischen Gerechtigkeit. Ein gesunder Zweifel.

Teil 2 der Serie: Der Pastor und das Fitnesstudio.

 

 

Download als PDF

Nach oben scrollen